Segeln: Leseprobe "Koks im Kiel"

Am nächsten Tag parken sie ein. Null Wind, relativ warm, die Segel schlappen hin und her, aber sie haben das Glück, dass schon noch ein paar Stunden der Wind wieder kommt und ganz langsam an Stärke zunimmt. Gemäß ihren Wetterdaten befinden sie sich in einem relativ schmalen Band mit ordentlichem Wind. Wenn das stabil bliebe, dann kämen sie relativ gut voran. Bisher beträgt ihre gesegelte Durchschnittsgeschwindigkeit trotz der paar Stunden Flaute etwa dreizehn Knoten oder vierundzwanzig Stundenkilometer. Wenn sie so durchkämen, würden sie die sechstausend Kilometer bis nach Mallorca vermutlich in unter zwölf Tagen schaffen. Das wäre ein fantastisches Ergebnis. Momentan fahren sie gerade schon wieder fünf Knoten. André steht am Rad, Tom sitzt an der Schottwand, Jerry liegt in seiner Koje und Tonio schaut nach den Segeln.

Ein dumpfer Schlag von unten. André knallt mit seiner Brust auf das Steuerrad, Tonio saß hinter der Winsch und wird auf diese drauf geschleudert, von unten ertönt ein Schrei und Tom rutscht in einem Affenzahn durchs ganze Cockpit und knallt gegen den Niedergang. Das Schiff ist gegen etwas Hartes geprallt, André schaut sich um, da ist nichts, das Schiff steht fast. Tonio rappelt sich auf, André ruft:

„Was war das?“

„Keine Ahnung“, antwortet Tonio.

„Segel weg“, schreit André.

Tonio macht die Genuaschot auf, holt die Leine von dem Fockroller und beginnt, das Segel aufzurollen. Tom ist ans Großfall geeilt, André hat das Boot in den Wind gestellt und zu viert fangen sie an, das Großsegel zu bergen. Das ist eine ziemliche Mühe, es hat weit mehr als hundert Quadratmeter. Sie sind nach dem Crash in den Wind gegangen und jetzt treibt sie der Wind langsam zurück. 

Nachdem die Segel weg sind, geht André mit Tonio den Niedergang runter und checkt alles auf einen Wassereinbruch, dann prüfen sie die Kielaufhängung und die Kielbolzen, aber da ist nichts zu sehen. Bei dem heftigen Aufprall können Kielbolzen verbiegen oder gar reißen. Aber so weit sieht alles gut aus. Tom und Jerry schauen den Rumpf von oben ringsherum an, aber da ist auch alles gut. Sie probieren das Ruder, scheint einwandfrei zu funktionieren.

„Was glaubt ihr, was haben wir getroffen?“, fragt André.

„Ich nehme an, das war ein Container. Es ist aber ungewöhnlich, dass der in dieser Tiefe herumtreibt. Ich kann mir nur vorstellen, dass sein Inhalt so viel Auftrieb hat, dass er in so einer Art Schwebe ist, vielleicht mal an der Wasseroberfläche treibt, dann ein bisschen untergeht und wieder hochkommt. Das sind für die Schifffahrt natürlich die gefährlichsten. Die, die oben treiben oder sogar ein Stück aus dem Wasser heraus ragen, die sieht man wenigstens noch, wenn man Glück hat. Die, die absaufen, sind wenigstens weg. Aber solche sind die gemeinsten. Und es werden immer mehr. Auf den Meeren dieser Welt treiben Abertausende von diesen Dingern. Neulich sind in einem Sturm eintausendneunhundert Stück von einem einzigen Containerschiff in die See gegangen. Aber die Menschheit muss ja auch jeden Dreck über zehntausend Meilen transportieren, sonst sind wir nicht glücklich, das ist total crazy“, sagt Tom.

„Habt ihr sowas schon mal erlebt?“, fragt André. Tonio und Jerry schütteln den Kopf.

„Ja, sowas habe ich schon mal erlebt. Am Neigekiel eines Maxi in Australien war die gesamte Mechanik kaputt, zum Teil aus dem Rumpf gerissen. Wir hatten auch einen massiven Wassereinbruch. Zum Glück waren Begleitboote in der Nähe und wir haben das Boot dann irgendwie zwischen vier riesigen RIBs, also Schlauchbooten mit Festkiel, halbwegs aufgehängt, in den nächsten Hafen bugsiert und an den Kran gehängt. Solche Kräne findest du auch nicht an jeder Straßenecke“, berichtet Tom.

„Ich sehe mir den Kiel an“, beschließt André. Er geht runter, holt sich eine Taucherbrille, Flossen und eine Unterwasser-Taschenlampe, zieht sich eine Badehose an und lässt sich am offenen Heck des Bootes ins Wasser gleiten. Zuerst checkt er das Ruder, aber das ist völlig in Ordnung. Er schwimmt in etwa einem Meter Tiefe unter dem Boot und schaut, ob er irgendwas am Rumpf bemerkt, aber das sieht gut aus. Ihm geht die Luft aus, schon muss er hoch. Er bittet Tonio, die Pressluftflasche zu holen, die sie zum Glück dabei haben. Er geht wieder runter. Das Wasser ist gar nicht so kalt. Dann taucht er zum Kiel. Der ist zumindest noch da. André kann sich an einen Fall erinnern, wo er nach so einem Zusammenstoß weg war. Der Kiel ist fast vier Meter tief. Bei so einer Yacht ist er eine schmale Finne, an deren unterem Ende eine Bleibombe mit dem ganzen Gewicht hängt. Auf der Steuerbordseite, das ist von hinten gesehen die rechte, sieht alles so weit gut aus, er schwimmt dann noch bis zum Bug, findet aber hier keine Schäden. Dann schwimmt er vom Bug zurück bis zum Kiel, taucht auf der Backbordseite zum Kiel runter und da sieht er etwas Seltsames. An der Bombe ist ein Teil nach oben weg gebogen, er geht näher ran und sieht darunter einen Hohlraum. Dann fallen ihm an der Kielbombe und an der Finne tiefe Kratzer auf. Sie müssen mit dem Kiel einen in dieser Tiefe treibenden harten und schweren Gegenstand getroffen haben.

Das verbogene Teil entpuppt sich als sehr gut gemachte Abdeckung, die durch den Aufprall aus einer Halterung rausgedrückt worden ist. Die Mulde darunter dürfte an der tiefsten Stelle etwa fünfzig Zentimeter tief sein, fast zwei Meter lang und mehr als einen halben Meter breit. Sie liegt im hinteren Bereich der fast vier Meter langen Kielbombe. Sie haben das Boot am Kran gehabt und den Kiel genau inspiziert und da ist ihnen nicht das Geringste aufgefallen. Er nimmt an, die haben den Spalt zwischen der Bombe und der Abdeckung zugespachtelt, vermutlich mit einem Dichtstoff, der  elastisch bleibt und danach die Antifoulingfarbe drüber lackiert. Das Dichtmaterial sieht man jetzt zum Teil. Es sieht so aus, als ob die Abdeckung auf ihrer ganzen Länge an einem jetzt zum Teil  sichtbaren Scharnier hängt. So wie sie sich anfühlt, ist sie aus Edelstahl gefertigt.

 Er schaut drunter, da schimmert etwas, er greift rein und holt ein plastikverpacktes Päckchen in der Größe eines kleinen dünnen Ziegelsteins hervor. Drinnen ist etwas Gelbliches. Im Hohlraum sind noch zwei davon, die er mitnimmt.

Er schwimmt langsam zum Heck des Schiffes, taucht auf, schiebt die Päckchen ins Cockpit, und lässt sich dann von Tonio und Tom hoch helfen, nimmt das Mundstück des Lungenautomaten raus, die Brille runter. Dann entledigt er sich der Flasche.

Tonio betrachtet das Päckchen, das André ihm gegeben hat, und zeigt dann hinter das Heck.

„Schau mal, da treiben Dutzende von Päckchen wie das hier.“

„Was zum Teufel ist das?“, fragt Tonio.

Jerry schaut richtig böse.

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Axel Ulrich

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